Geriatrisches Rehazentrum
Unbequeme Denkmäler - Colonia Piaggio,
Santo Stefano d‘Aveto
bearbeitet von: Matilda Postel, Fabian Nickmann
Architektur ist nie neutral, sondern stets ein Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Sie dient als strategisches Mittel, um gesellschaftliche Hierarchien zu definieren, zu hinterfragen oder zu verstärken. Die Auseinandersetzung mit historisch belasteter Architektur ist daher nicht nur eine gestalterische Aufgabe, sondern eine politische und gesellschaftliche Notwendigkeit. Dies zeigt sich besonders deutlich im Umgang mit Gebäuden aus faschistischen Regimen, wie der „Colonia Rinaldo Piaggio“. Dieses Gebäude, das in der Zeit des italienischen Faschismus errichtet wurde, diente der Erziehung von Arbeiterkindern zu gefügigen Gliedern eines autoritären Systems. Die architektonische Form – ein Militärflugzeug – die strengen Abläufe im Inneren, die Massenunterkünfte, zentrale Überwachungspositionen und Bauteile wie der Appellplatz oder der Fahnenmast machten die ideologische Einschreibung deutlich. Die Struktur des Gebäudes förderte Disziplinierung, Überwachung und Uniformität, während sie jegliche Form individueller Entfaltung unterband.
Die ideologische Funktion des Gebäudes ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, da sich der Stil des Rationalismo – mit seinen klaren Linien und seiner vermeintlichen Fortschrittlichkeit – oft als „antifaschistisch“ oder neutral tarnt. Diese Entkontextualisierung ist besonders gefährlich, da sie die ursprünglichen Intentionen der Architektur verschleiert. Umso mehr liegt es in der Verantwortung von Architekt:innen, solche Bestände historisch einzuordnen und durch gestalterische Eingriffe kritisch zu bearbeiten. Der vorliegende Entwurf greift diesen Anspruch auf. In einer umfassenden Analyse wurden die problematischen Aspekte des Bestands identifiziert und gestalterische Strategien entwickelt, um diese zu entschärfen. Räume, die für die Masse konzipiert waren, wurden in kleinteilige, individuelle Einheiten überführt. Kontrollierende und zentralisierte Bereiche wurden geöffnet und für gemeinschaftliche Nutzung umgestaltet. Besonders aufgeladene Elemente wie der Appellplatz oder die Ehrenhalle wurden dezentralisiert oder durch Text- und Audioinstallationen historisch kontextualisiert.
Das Gebäude wurde im Rahmen des Entwurfs zu einer geriatrischen Reha-Klinik umgenutzt. Diese Entscheidung basiert auf der demografischen Entwicklung der Region Ligurien, die durch Überalterung, Landflucht und eine schlechte medizinische Infrastruktur geprägt ist. Die nächstgelegene Notfallversorgung ist zwei Autostunden entfernt, viele Familien können sich keine privaten Pflegeplätze leisten. Die Reha-Klinik soll hier eine Versorgungslücke schließen, pflegende Angehörige entlasten und älteren Menschen helfen, ihre Selbstständigkeit zu bewahren. Die Klinik bietet Therapieangebote bei chronischen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes – den häufigsten Ursachen für körperliche Einschränkungen im Alter. Durch eine integrierte Tagespflege können auch Menschen aus der Region versorgt werden, ohne zusätzliche Infrastruktur schaffen zu müssen. Die Klinik ist somit nicht nur ein architektonisches, sondern auch ein soziales Projekt, das auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen reagiert.
Im Inneren des Gebäudes wurde die ursprüngliche Struktur weitgehend beibehalten, jedoch funktional und räumlich umgestaltet. Der neue Eingang liegt an der Seite des Gebäudes und ermöglicht eine barrierefreie, offene Erschließung. Die ehemalige Symmetrie des Baukörpers wird durch neue Wegeführungen und Zonierungen bewusst gebrochen. Aufenthaltsbereiche, Beratungsräume, Therapiezonen und Gemeinschaftsräume sind so organisiert, dass sie einen ruhigen Rückzugsort und gleichzeitig soziale Interaktion ermöglichen. Besonders auffällig ist die Verwendung sogenannter Raummöbel, die sowohl als funktionale Trennung als auch als gestalterisches Element dienen. Im ehemaligen Veranstaltungssaal zum Beispiel übernimmt ein Raummöbel die Funktionen von Umkleiden und Duschen, während Oberlichter die historische Raumhöhe und -struktur weiterhin erlebbar machen.
Auch der Außenraum wurde entsprechend transformiert. Im vorderen Bereich kann die lokale Bevölkerung Veranstaltungen im Freien abhalten, während der rückwärtige Gartenbereich als „gestaltete Wildnis“ einen Rückzugsort für die Patienten bietet. Eine bewachsene Pergola bildet die physische und symbolische Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Die Gestaltung des Außenraums ist eng mit den Nutzungen im Inneren verbunden und bildet mit ihnen eine konzeptionelle Einheit.
In den Obergeschossen befinden sich die Stationszimmer der Reha-Klinik. Die ehemaligen Schlafsäle wurden in Einzel- und Doppelzimmer unterteilt, wobei die historische Struktur bewusst lesbar bleibt. Die Zimmer verfügen über kleine Austritte, barrierefreie Bäder und eingebaute Möbel für Stauraum und Schreibtische. Spiegel statt Glas in den Oberlichtern erhöhen den Komfort und wahren die Privatsphäre. Gemeinschaftsbereiche wie Lesezimmer, Teeküchen und Aufenthaltsräume fördern den sozialen Austausch. Auch die ehemals kontrollierenden Raumstrukturen in der Gebäudemitte wurden geöffnet und einer gemeinschaftlichen Nutzung zugeführt.
Besonderes Augenmerk lag auf dem Zusammenspiel zwischen Alt- und Neubau. Der Anbau aus dem Jahr 2006 wurde formal zurückhaltend weitergeführt und durch die Verwendung von Materialien wie Linoleum, Aluminium und Hanfkalk in eine harmonische Beziehung zum farbenfrohen Altbau gebracht. Die Detailgestaltung macht die Zeitschichten sichtbar, ohne einen aggressiven Kontrast herzustellen. Statt auf scharfe Abgrenzung setzt der Entwurf auf eine organische Weiterentwicklung im Sinne der „aemulatio“, wie sie von Plevoets und Van Cleempoel beschrieben wird. Der Architekturansatz beruht nicht auf Imitation, sondern auf Weiterdenken und Respekt gegenüber dem Bestand.