Künstlerische Schaffensgemeinschaft

Unbequeme Denkmäler - Colonia Piaggio, 
Santo Stefano d‘Aveto

bearbeitet von: Hendrik Jung, Benedikt Schobert

Die Ferienkolonie „Rinaldo Piaggio“ in Santo Stefano d’Aveto ist ein architektonisch anspruchsvolles, jedoch historisch belastetes Gebäude, das 1936 von C.L. Daneri im Auftrag des Rüstungsunternehmens Piaggio erbaut wurde. Ursprünglich diente sie dem faschistischen Regime als Umerziehungslager für Kinder, um sie außerhalb ihrer familiären Strukturen ideologisch zu prägen. Diese Funktion wurde hinter einer modernen, grazilen Architektursprache verborgen, die den Eindruck von Fortschritt und Humanität vermitteln sollte. Tatsächlich verbarg sich hinter der Stahl- und Glasfassade ein System der Disziplinierung und Entmenschlichung. Die strenge Symmetrie und die zentrale Lage fern des Dorfkerns unterstreichen die abgeschottete, fast autarke Struktur des Gebäudes. Dennoch wurde die Architektur bewusst funktional und zukunftsgewandt gestaltet, mit einer schlanken, elegant geschwungenen Kubatur und subtiler Gliederung. In jüngerer Zeit wurde das Gebäude bereits unsensibel umgebaut, wodurch nicht nur seine architektonischen Qualitäten beeinträchtigt, sondern auch seine bauliche Substanz geschädigt wurde. An vielen Stellen dringt mittlerweile die Natur in das Gebäude ein.

Der Entwurf verfolgt das Ziel, dieses historische Erbe nicht nur zu erhalten, sondern es einer neuen, sinnstiftenden Nutzung zuzuführen. Dabei geht es nicht um ein rückhaltloses Negieren der Vergangenheit, sondern um eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Bestehenden. Die neue Nutzung sieht vor, die ehemalige Kolonie in einen Ort für Künstler:innen und Kreative zu transformieren. Es soll ein Raum entstehen, der Rückzug, Gemeinschaft, kreative Produktion und Reflexion miteinander vereint – ein lebendiges Zentrum für interdisziplinären Austausch und kritische Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Zeit. Inspiriert von historischen Künstlerkolonien und Einrichtungen wie der Villa Massimo in Rom bietet das Projekt eine Alternative zum industriell geprägten Alltag. In einer Zeit wachsender gesellschaftlicher Spannungen, psychischer Belastungen und Entfremdung von der Natur wird hier ein Gegenmodell vorgeschlagen: ein Ort des Innehaltens, der Selbstverwirklichung und des gemeinsamen Schaffens.

Der Entwurf will die räumlichen Qualitäten der ursprünglichen Kolonie freilegen und zugleich die Spuren der Transformation lesbar machen. Die unglücklichen Eingriffe der ersten Umbauphase werden in großen Teilen rückgebaut, während stimmungsvolle Elemente wie der ehemalige Speisesaal erhalten bleiben. Die Klarheit und Weite des ursprünglichen Raumgefüges wird wiederhergestellt, ohne die historische Entwicklung des Gebäudes zu verleugnen. Neue Eingriffe werden klar als solche kenntlich gemacht und fügen sich durch ihre Proportionen und Materialität respektvoll in das Ensemble ein. Ein neues Gewächshaus wird als landschaftlich eingebetteter, tiefer gelegener Baukörper hinzugefügt, der mit den Obergeschossen des Hauptgebäudes in direkter Sichtbeziehung steht. Diese Erweiterung eröffnet neue Wege der Nutzung, ohne die historische Struktur zu dominieren. Der Außenraum wird gezielt aktiviert: Eine neu geschaffene Eingangssituation, eine Sichtachse zur Straße, landschaftliche Freiräume, eine Aussichtsplattform und eine Südwest-Schneise strukturieren das Gelände neu und laden zum Aufenthalt, zur Reflexion und zur kreativen Nutzung ein.

Auch das nicht denkmalgeschützte Nebengebäude, ehemals Empfangsbereich und Krankenstation, wird in das Konzept integriert. Obwohl die interne Struktur nicht für eine neue Nutzung geeignet ist, wird auf einen Abriss verzichtet, da das Gebäude Bestandteil des architektonischen Gesamtgefüges ist. Stattdessen wird es entkernt, statisch neu organisiert und mit einem leichten, klar ablesbaren Dachaufbau versehen. Ein Stahlgerüst übernimmt die tragende Funktion, ergänzt durch transluzente Dachelemente zur Verbesserung von Belichtung und Belüftung. Der gestalterische Kontrast zwischen Alt und Neu bleibt bewusst sichtbar.

Das Wohnkonzept der neuen Nutzung orientiert sich an Offenheit, Flexibilität und Gemeinschaft. Im Zentrum jeder Etage liegt ein großflächiges Wohnatelier, das gemeinschaftlich genutzt wird. Es erinnert in seiner Struktur an die Schlafsäle der ehemaligen Kolonie, bricht jedoch deren funktionale Strenge zugunsten von Vielfalt und individueller Gestaltungsfreiheit. Küchenbereiche, gemeinschaftliche Terrassen, Rückzugsräume und flexible Zonierungen durch Vorhänge und Trennwände erlauben unterschiedliche Wohn- und Arbeitsformen. Das sogenannte „performative Wandmöbel“ ist ein zentrales Element dieses Konzepts. Es trennt nicht nur öffentliche und private Bereiche, sondern integriert Stauraum, Schreibtisch und Übergangszonen. Es ermöglicht vielfältige Raumszenarien und fördert die individuelle Aneignung des Wohnraums.

Dieser Entwurf versteht sich als Beitrag zu einer bewussten, respektvollen Weiterentwicklung historisch belasteter Bauten. Er transformiert ein Instrument der Indoktrination in einen Ort der Freiheit, Kreativität und Reflexion. Die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird nicht als Bruch, sondern als kontinuierlicher Dialog verstanden – sichtbar im Umgang mit Materialien, in der räumlichen Organisation und in der programmatischen Ausrichtung. Die ehemalige Kolonie wird so zu einem Ort der gesellschaftlichen Utopie, die sich ihrer Geschichte stellt und gleichzeitig neue Perspektiven eröffnet.

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